Der Liberalismus zielt auf eine Maximierung der Freiheit. Das ist seine große Stärke – aber auch seine Achillesferse, denn wo andere Ideologien allgemeingültige Handlungsweisen vorgeben können, muss die Freiheit immer neu abgewogen, neu bemessen werden.
Diese Abwägung gelingt, je nach Couleur des eigenen Menschenbildes, nach verschiedenen Leitsätzen. Einer, der den sozialen Liberalen wohl naheliegt, ist folgender: „Meine Freiheit geht soweit, bis Sie die Freiheit einer anderen einschränkt“. Doch auch so eine Betrachtungsweise liefert keine direkten Antworten darauf, welche Handlung aktuell zur größtmöglichen Freiheit führt. Sie gibt vielmehr einen Weg vor, auf dem man sich einer solchen Festlegung annähern kann.
Dazu ein konkretes, aktuelles Beispiel: Sind Ausgangssperren während der Coronakrise in einer liberalen Weltanschauung zu rechtfertigen? Die Freiheiten, die hier gegeneinander stehen sind zunächst klar: Die private Freiheit, sich im öffentlichen Raum zu bewegen und dort seinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen zu können, die Freiheit zu Arbeiten und die Freiheit, die sich aus einer starken Wirtschaft auch für den Einzelnen ergibt, stehen auf der einen Seite. Ihnen gegenüber stehen die öffentliche Freiheit nicht mit einem pandemischen Virus infiziert zu werden, oder immerhin einen freien Platz im Krankenhaus zu haben, sollte es dazu kommen und die Freiheit zum Selbstschutz die Arbeit von zuhause ausüben oder ganz aussetzen zu können, ohne befürchten zu müssen ersetzt zu werden durch jemanden, der es nicht tut.
Hier wird die Abwägung nun eine persönliche, nicht universell zu treffende. Denn wie sollten diese beiden Facetten auch objektiv miteinander verglichen werden? Sie sind gänzlich asymmetrisch und dazu noch miteinander verwoben: Auch das Private ist nicht frei von Freiheiten, die die Öffentlichkeit betreffen – andersherum ist die Öffentlichkeit aufgebaut aus vielen Einzelnen. Keine der beiden Seiten kann deshalb wirklich für sich in Anspruch nehmen Freiheit oder Unfreiheit darzustellen. Freiheit kann Grenzenlosigkeit bedeuten – aber eben auch Ausgangssperre.
Eben deshalb ist es das Schicksal der Liberalen zwischen allen Stühlen zu stehen. Sie können nicht rigoros das „beste für die Gemeinschaft“ fordern, denn sie wissen, dass die Gemeinschaft zu heterogen ist, um sie über einen Kamm zu scheren. Sie können nicht das „beste für den Einzelnen“ fordern, denn sie wissen, dass dort, wo der Einzelne aufhört, der nächste Einzelne beginnt.
Die Frage in einer Krise muss also lauten: „Was kann getan werden, das so wenig wie möglich in die Freiheiten der Menschen einschneidet, so wenig wie möglich Ungleichheit von Freiheiten befördert und sich dennoch effektiv dem Problem entgegen stellt.“ Die Antwort darauf wird immer eine Gratwanderung sein, wird viele Expertenmeinungen brauchen und wird im ersten Moment keinen großen politischen Mitnahmeeffekt erzielen, weil sie zu viele Komponenten hat und zu viele komplexe Zusammenhänge bedenkt. Am Ende hat sie aber die größte Chance auf Erfolg und gleichzeitig die größte Chance darauf, die Freiheit langfristig zu sichern und auch in der Krise hochzuhalten.
Eine Politik, die die Freiheit als höchste Gut betrachtet zu betreiben ist nie eine leichte Aufgabe. Sie ist weniger emotional als die Sicherheit oder die Gerechtigkeit, vermeintlich weniger gerecht als die Gleichheit und auch nicht so klar definiert wie andere Maxime. Dennoch ist sie die, die mir am meisten am Herzen liegt. Denn sie beeinflusst alles andere. Was nutzt mir „Sicherheit“, ohne die Freiheit sie zu nutzen? Was nutzt mir „Gerechtigkeit“, wenn sie nicht im freien Austausch definiert wurde? Deshalb müssen wir die Freiheit immer, unabhängig von der Situation in der wir uns befinden, in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen – ohne dabei zu denken unsere Freiheit wäre die Einzige, die es zu bedenken gäbe.